Das Wunder.

Novellette von Paul Bliß.
in: „Stralsundische Zeitung, Sonntagsbeilage” vom 14.08.1898,
in: „General-Anzeiger für Chemnitz und Umgegend” vom 18.08.1898,
in: „Oedenburger Zeitung” vom 25.11.1913


Es war ein Sonnabend. Heller, leuchtender Sonnenschein fiel auf all die Möbel und auf all die zierlichen Nippsachen, die Mariechen abstaubte und zu ordnen bestrebt war, — in vollen Wogen fluthete das goldene Licht zum offenen Fenster herein und schmückte selbst den armseligsten Gegenstand mit leuchtendem Glanz — ser ganze Raum schien wie verzaubert.

Und dem kleinen Mariechen hüpfte das Herz vor Freude!

„Morgen ist Sonntag!” jubelte sie, „und morgen wird er endlich heimkehren!”

Das zierliche kleine Mädel war so lustig und so vollständig im Bann ihrer Gedanken, daß sie Alles um sich her vergaß und plötzlich begann, laut und jauchzend ein Liebeslied zu singen.

Gkeich darauf aber trat der Pastor ans Fenster; er arbeitete draußen in der Pfeifenkraut-Laube an seiner Sonntagspredigt, und da ihn der Singsang störte, klopfte er auf das Fensterbrett und sagte milde, aber mahnend: „Nicht doch, Mariechen!”

Und sofort verstummte die Kleine, wurde purpurroth und that dann schweigend ihre Arbeit weiter.

Aber die Sonne schien zu schön, und in Mariechens Seele war die Freude zu groß, daher kam es, daß die Kleine den Zwischenfall bald vergaß und wieder ihren frohen Gedanken nachhing; sie nahm sich aber zusammen und behielt jetzt die Freude still für sich . . . . . Er sollte morgen wiederkommen, der Gespiele ihrer Jugend, er, an den sie all' die langen Jahre gedacht hatte, auf dessen Wiederkommen sie harrte in seliger Freude! Fünf Jahre hatte sie ihn nicht gesehen! In die weite Welt war er gegangen, das Glück zu suchen und seinem Drang nach Abenteuern Genüge zu thun. Sie aber mußte still daheim sitzen, die Arbeit des Hauses thun und sich stumm in alle Wünsche der Anderen fügen, denn für ein armes Waisenkind, das man einst aus Gnade und Barmherzigkeit aufgenommen hatte, gab es nichts Anderes, als sich still zu fügen. Das hatte sie Alles geduldig ertragen, denn die Hoffnung auf ihn, den heimlich Geliebten, die erhielt sie aufrecht, die gab ihr Kraft und Geduld zu Allem. Und deshalb war es nun eitel Wonne und Freude in dem kleinen Herzen, weil es nun ja zu Ende war mit dem Harren, weil nun ja das Glück beginnen mußte, auf das sie so lange sehnsüchtig gewartet hatte. So schwanden die Stunden nun schnell dahin und so kam der Augenblick, der ihn zurückbrachte.

Und der Sonntag brach an.

Ein Tag voll Jubel und Freude, ein Tag, an dem der Himmel seine ganze Herrlichkeit der Welt geschenkt hatte. Sonnenschein und Vogelgesang, und Farbenpracht und Blumenduft — Frohsinn und Freude, wohin man auch sehen mochte.

Und da kam er zurück, Fritz, der Jugendgespiele, der Neffe des Pastors.

Ein stattlicher junger Mann war er geworden, männlich, stolz und schön, mit sonnenverbrannten Zügen und ernsten, dunklen Augen.

Bebend vor freudiger Erregung und scheu, fast angstvoll, so stand Mariechen vor ihm, reichte ihm die kleine Hand hin und wartete nun darauf, daß er sie an sich ziehen und sie herzen und küssen würde.

Er aber stand vor ihr und ließ seinen lächelnd prüfenden Blick an ihr herunter gleiten und sagte leichthin: „Guten Tag, Mariechen! Wie groß Du geworden bist!” und grüßend ging er weiter.

Starr und stumm stand sie da und schaute ihm nach. Es war, als ob plötzlich Alles in ihr erstorben sei, als ob sie jedes Interesse, jeden Antheil am Leben verloren hätte. Sie wußte nicht mehr, was sie that oder was um sie her geschah, alle ihre Arbeiten that sie mechanisch und gleichgültig und starr und gefühllos ging sie umher.

Und sie sah, wie er, auf den sie so lange gehofft hatte, mit den andern Mädchen, den vornehmen und reichen, schön that, wie er sich feiern ließ als den weitgereisten Mann, wie er scherzte, den Hof machte und sich als Kavalier und Weltmann aufspielte, Alles das sah und erkannte sie; aber es war, als ginge das Alles sie nun nichts mehr an, als käme es von einem Fremden, mit dem sie nichts mehr gemein hätte.

So verging der schreckliche Sonntag, — traurige Stunden wurden es für sie, — aber auch sie gingen vorüber, und am dritten Tag darauf reiste der Besuch ab.

Und da, als es wieder ruhig im Hause wurde, da fand die arme Kleine nach und nach sich selbst wieder, und nun erst erkannte sie den großen Verlust, den sie erlitten hatte, nun erst sah sie, daß sie um die Hoffnung ihres Lebens betrogen war, und nun machte ihr Schmerz sich Luft, und sie weinte lange und bitterlich.

Von dem Tage an wurde sie ernst und verschlossen, still that sie ihre Arbeit und war am liebsten ganz allein.

Der Nachbar des Pastors war ein alter Rentier, ein Mann von fünfzig Jahren, einfach und schlicht, aber ein herzensguter Kerl,

Eines Tages kam er und hielt um Mariechen an. Er wollte eine stille, treue Gefährtin, eine Pflegerin seines Alters.

Die Kleine sagte nicht sogleich Ja, sie überlegte. Aber der Pastor und Alle redeten ihr zu, daß ein so armes Mädel wie sie nie im Leben wieder eine so gute Partie machen könne, und so sagte sie schließlich doch ja, und wurde die Frau des ungeliebten Mannes.

Es wurde eine ruhige vernünftige Ehe. Der Mann still und zufrieden, daß noch in seinen alten Tagen das Glück ihm ins Haus gekommen; — und Mariechen geduldig, in ihr Geschick ergeben, still und wunschlos.

Nur manchmal, in schönen warmen Sommernächten, wenn die junge Frau ruhelos auf dem Lager sich streckte und den Schlaf nicht finden konnte, dann wanderten ihre Gedanken wohl in die Ferne und suchten den Mann, den sie einst geliebt hatte, geliebt mit allen Fasern ihres Herzens — — — Aber auch das ging vorüber, — die Zeit wirkte heilbringend auch dafür, — und nach und nach dachte sie nicht mehr an ihn, — das Einerlei des Alltags, die Sorgen und Angelegenheiten der Wirthschaft stumpften ihr Feingefühl ab und bewirkten, daß sie sich in das öde Einerlei solchen Lebens hineinfand.

So lebten sie sechs Jahre nebeneinander, still und wunschlos, äußerlich zufrieden und scheinbar glücklich. Dann starb der Mann und sie erbte sein Vermögen.

*           *           *

Sieben Jahre später.

Wieder ist es Sommer. Und Mariechen sitzt in dem Garten ihres Hauses und liest einen Brief, einen Brief von Ihm, — einen Brief, der seine Rückkehr anzeigt; als sie ausgelesen hat, blickt sie nachdenkend in die blaue Luft, und wie träumend sieht sie auf all das junge Grün ringsum und auf die tanzenden Sonnenlichter und auf all die Blumenpracht, die der junge Lenz hervorgezaubert hat.

Und es kommen ihr die Erinnerungen an die Vergangenheit, an einen Tag, so hell, so lachend wie dieser, an ein ersehntes Glück und an eine getäuschte Hoffnung. Aber nicht wie damals wallt es bitter in ihr auf, nein, heute sieht sie mit ruhigem Blick in die blaue Luft, denn lange schon ist es still in ihrer Seele geworden, und was einst sie durchlebte, das ist jetzt erstorben, Alles ruhig und todt, erstorben durch die Eintönigkeit des Alltagseinerlei und durch die Jahre, die dazwischen lagen.

Plötzlich hört sie Schritte nebenan im Kies.

Er steht wieder vor ihr.

Ruhig lächelnd sieht sie ihn an, reicht ihm die Hand und heißt ihn willkommen.

Und er zieht ihre Hand an die Lippen und netzt sie mit heißen Küssen, und aus seinen Augen spricht eine Sprache zu ihr, die nur zu deutlich redet.

Da entzieht sie ihm langsam die Hand, ladet ihn ein, sich zu setzen, Alles freundlich, lieb und nett, wie zwischen guten alten Freunden, und beginnt dann eine Unterhaltung von gleichgültigen Sachen und Tagesereignissen.

Er aber, nerbvös, zerfahren, hält dies nicht aus. Er steht auf, kommt zu ihr heran, steht vor ihrem Stuhl still und beginnt, von sich und seinem Leben zu sprechen, und er sagt ihr, daß er ruhelos durch die Welt gestürmt sei, daß er das Glück gesucht und es nie gefunden habe, und daß er num müde und enttäuscht heim komme und hoffe, hier endlich das Glück zu finden.

Da sieht sie ihn an mit ruhigen stillen Augen und entgegnet leise: „Nein, Fritz, irren wir uns nicht. Einmal habe ich gehofft, damals hast Du mich getäuscht, — jetzt hoffst Du, nun muß ich Dir einen ablehnenden Bescheid geben.”

Stumm, mit bittenden Blicken steht er vor ihr. „Mariechen, ich war ein Thor, gewiß! Aber ich war jung, ich kannte die Welt noch nicht, ich glaubte noch, daß ich das Glück erringen konnte. — dazu aber mußte ich frei sein; nun aber ich weiß´, daß es eitler Wahn war, nun kehre ich zurück, reuevoll und bittend; nimm mich wieder auf und vergiß, was ich Dir Böses gethan habe!”

Mit mattem Lächeln sagt sie: „Nein, Fritz, das ist zu spät, — sieben Jahre liegen dazwischen, sieben graue Jahre voll Oede und Einsamkeit, jetzt bin ich innerlich alt geworden und kann Dir das nicht mehr sein, was ich Dir einst wohl gewesen wäre.”

„Also Abrechnung,” murmelt er leise.

Stumm nickt sie nur.

Da aber taucht vor ihm das graue Gespenst seiner Zukunft auf und wie ein endloser Leidenspfad, lichtlos und trist, liegt sie vor ihm und erfüllt ihn mit Grausen und Entsetzen.

Und da plötzlich kommt noch einmal all'der alte Jugendtrotz in ihm auf, noch einmal wird der Wille zum Leben so stark, daß er Alles um sich her vergißt und noch ein Letztes versuchen will.

Und so stürzt er auf die junge Frau zu, reißt sie an sich mit der stürmenden Gewalt der Jugendlust, preßt ihren Kopf an seine Brust und unter seinen wilden Küssen flüstert er ihr zu: „Ich weiß ja, daß Du mich noch immer liebst! Denn deshalb nur bin ich ja wiedergekommen! Und wenn Du nur Geduld mit mir haben willst, dann wird sicher Alles noch gut werden.”

Und sie sträubt sich und sucht sich zu befreien aus seiner Umarmung; er aber hält sie nur noch fester an sich gepreßt und kann sich nicht genug thun in wilden, heißen Betheuerungen seiner Liebe.

Und da geschah das Wunder, an das sie nicht mehr glauben wollte: durch die Kraft seiner Liebe, durch seine heißen Küsse ist es wieder hell und licht in ihrer Seele geworden, und alles das, was sie längst todt und vergessen gewähnt hatte, das ist nun wieder lebendig geworden, und nun endlich findet sie wirklich noch das hohe, große Glück der seligen Liebe, auf das sie einst so bangend gehofft hatte . . . und wie im Wonnerausch schloß sie den geliebten Mann in ihre Arme.

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